Das Buch als Werkzeug der Interaktion

Das Modelling Book

Stephen Willats nützt das Medium Buch, um mit Leuten in einen Austausch zu treten und in Nachbarschaften, Museen und Buchläden einen Raum zu schaffen, der das Knüpfen sozialer Bande ermöglicht. Dieser Essays von 1975 gewinnt an Relevanz vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen um das Publikum, indem er eine Vorgehensweise skizziert, die dem Zwang oder Imperativ zur Partizipation widersteht und das Kunstwerk als Netzwerk an Beziehungen zwischen Künstler_innen, Publikum und Gesellschaft definiert.
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Modelling Book

Stephen Willats, Modelling Book, 1975

Die relativistische Natur des Erkenntnisvermögens des Menschen ist ein wichtiges methodologisches Problem in der Kunstpraxis, denn es werden Fragen in den Vordergrund gerückt, die sich auf die Allgemeingültigkeit dessen beziehen, was sowohl der Künstler wie sein Publikum als bedeutend oder zweckvoll ansehen. Das Modelling Book ist als Kernstück eines Werkes konzipiert worden, welches anhand von Beispielen die Ansicht vorträgt, dass die sogenannten selbstverständlichen Vorstellungen der Menschen kontextbedingt entstehen. Das Werk trägt diese Ansicht innerhalb eines Bereichs vor, der sich für den Künstler bei der Entstehung seiner Intentionen und der Auswahl seiner Strategien besonders eignet; dies bezieht sich auch auf die Modelle[1], die sich Menschen aus verschiedenartigen gesellschaftlichen Schichten von den Kriterien des Künstlers machen. Die Arbeit weist darauf hin, dass die Kriterien nicht nur pluralistischer Art sind, indem es viele Kunstmodelle gibt, die gleichzeitig in einem Zustand der Koexistenz funktionieren, sondern dass diese Modelle von einem bestimmten sozialen und physischen Kontext abhängig sind, gefangen im Gefüge ihrer eigenen Regeln und Konventionen. Die Arbeit zeigt klare Modelle, als selbstverständlich betrachtete Vorstellungen von Kriterien, Konventionen usw. verschiedener Kunstsysteme, damit die Menschen diese selber neu bewerten und sich ihre eigenen Leitlinien machen können. Diese Modelle können dann neu bewertet und mit jenen anderer Personen verglichen werden. Der Stoff, mit dem sich das Werk befasst, wird als geeignet für den Kontext betrachtet, in dem das Buch besonders wirken soll, d.h. in der Ausstellung «Kunstwerke in Buchform». Im Rahmen der Ausstellung hat das Buch auch die Funktion, zu zeigen, wie man anhand eines Buches einem Publikum aufgabenorientierte Methoden darlegt.[2] Ein wesentlicher Faktor in der Anwendung von aufgabenorientierter Methodik im Bereich der Kunstpraxis ist das Lösen von Aufgaben durch ein Publikum. Diese Methoden werden im Modelling Book angewendet, um die Absichten, die dem Werk zugrunde liegen, mit einem Kontext zu verbinden, der vom Publikum als sinn voll betrachtet wird. Dieser Kontext wird als der bestehende Bezugsrahmen des Publikums gekennzeichnet. Die Aufgaben geben dem Benutzer des Buches Werkzeuge in die Hand, mit denen er die vorgebrachten Begriffe mit seinem Bezugsrahmen in Zusammenhang bringen kann. Die Aufgaben, die in dem Buch gestellt werden, bestehen aus einer Reihe zusammenhängender Fragen, welche das Publikum beantwortet, indem es entsprechende Lösungen formuliert. Jede Frage ist so gestellt, dass man mit einem besonderen Aspekt der Problematik des Werks konfrontiert wird, aber eine im voraus festgelegte richtige Lösung gibt es nicht; man kann seine Antwort formulieren, wie man es selbst für richtig hält[3]. Das Werk macht zwar in Form einer Empfehlung auf einen bestimmten Stoff aufmerksam, aber es zwingt das Publikum nicht, diesen Stoff in eine Werte-Struktur einzugliedern. Indem er das Publikum nach und nach mit verschiedenen Teilaspekten konfrontiert, gibt es ihm die Möglichkeit, die Verbindung zu seinen eigenen Vorstellungen herzustellen. Die Probleme werden in die Form von Fragen gebracht, die dergestalt gegliedert sind, dass das Publikum mit den verschiedenen Aspekten der im Buch enthaltenen Empfehlungen in Berührung gebracht wird. Mit Absicht wird die Frage-Form verwandt, damit der Benutzer bei der Auflösung der im Buch implizit enthaltenen Lösungsmöglichkeiten sich klar formulieren kann.

Donald McKays Aufsatz «What makes a question» (Woraus besteht eine Frage)[4] ist eine brauchbare Erklärung für die Funktion einer Frage als Werkzeug zur Klarstellung gedanklicher Vorstellungen zwischen Personen. McKay weist darauf hin, dass der Mensch beim Stellen einer Frage einen Zustand der Ungewissheit oder des Zauderns zum Ausdruck bringt, mit dem Zweck mit seiner Umwelt und besonders mit der Person, an die er die Frage richtet, in Kontakt zu treten. Mit anderen Worten: der Mensch hat ein nur unvollständiges Bild der Welt, die Frage richtet sich auf diesen Bereich der Unvollständigkeit. Der Antwortgeber versucht das Bild von dem Teilaspekt der Welt, auf das sich die Frage bezieht, zu vervollständigen. Das zwingt ihn, seine Ideen in eine solche Form zu bringen, dass er sie als «Information» weitergeben kann. Eine Antwort, die sich nicht auf das unvollständige Bild des Fragenden bezieht, wird weitere Fragen auslösen, bis das Bild hinreichend vervollständigt ist. Dieses Fragen und Antworten entwickelt sich zu einer Sequenz, einem Feedback-Mechanismus der Interaktion, mit dem Ziel, dass beide Parteien das gleiche Bild erhalten, - also die Übertragung des Modells vom einen auf den anderen.

Problems Used in the Modelling Book

Stephen Willats, Modelling Book, 1975

In diesem Sinne ist das Ziel des Buches, ein unvollständiges Bild vorzuführen und in den Brennpunkt zu rücken; die Probleme sind als Sequenz der Interaktion gedacht, durch die man die Möglichkeit bekommt, nach und nach die verschiedenen Teile zu vervollständigen. Das wesentliche Merkmal dieses Verfahrens ist, dass der Benutzer des Buches beim Formulieren der Modelle seine eigene, innere, erkenntnismässige Anordnung untersucht, die er dann in klar formuliert er, erläuternder Form artikulieren, nachprüfen, neuordnen und kombinieren und somit eigene empfehlende Modelle aufbauen kann. Jedes Problem soll ein individuelles Lösungsmodell hervorrufen, mit dem dann spätere Probleme der Sequenz übereinstimmen können. Das Werk hat so die Funktion eines Lernsystems, indem aufgrund auslesender Generalisierung bereits formulierte Modelle für die Ausarbeitung neuer Modelle verwandt werden. In seinem Buch über die Rolle der intensivierten Lerntheorie (reinforcement theory)[5] spricht Fred Keller von «auslesender Generalisierung», wenn die «durch Generalisierung zustandegekommenen Verbindungen zwischen Stimulanzen und Reaktionen zerlegt werden». Das Zerlegen eines Modells in Teile, die erfahrungsgemäss bei der Konstruktion neuer Modelle verwendet werden können, ist im Wesentlichen ein richtunggebendes Verfahren: das Buch soll in diesem Sinne als Lernsystem dienen. Die Probleme sind in diesem Lernsystem so gegliedert, dass der Benutzer des Buches sie nach drei Modell-Kategorien gruppiert. Diese sind wie folgt: 1. Beschreibende (deskriptive) Modelle: diese Kategorie soll eine Darstellung des bestehenden Verhaltens der Dinge geben; 2. Vorausbestimmende Modelle: diese Kategorie soll eine Feststellung des wahrscheinlichen Verhaltens der Dinge geben; 3. Empfehlende (preskriptive) Modelle: diese Modell-Kategorie soll eine Darstellung des möglichen Verhaltens der Dinge geben. Das Lernsystem wurde in drei Abschnitte geteilt. Jeder Abschnitt verwickelt den Betrachter in eine oder mehrere der drei Modell-Kategorien: der erste Abschnitt befasst sich mit den vorgegebenen, als selbstverständlich betrachteten, vagen Vorstellungen, die der Benutzer des Buches vom Künstler hat, und geht auf die Regeln und Konventionen ein, die sein Verhaltenbestimmen. Der zweite Abschnitt befasst sich mit den persönlichen Vorstellungen, d.h. mit dem Erkenntnisprozess des Benutzers im Hinblick auf bestimmte Beispiele von Arbeiten, die der Künstler anbietet. Im letzten Abschnitt richten sich die Probleme auf geplante Vorstellungen, der Betrachter bestimmt selber die wünschenswerten, zweckmässigen Kriterien für den Künstler. Die letzten Probleme sind so gestelIt, dass der Betrachter beim Ausdenken eines wünschenswerten Kriteriums schliesslich zum optimalen Modell eines Kunstwerks kommt, welches drei Variablen berücksichtigt, nämlich: 1. Die Intention des Künstlers; 2. Die Zusammensetzung des Publikums des Künstlers; 3. Der soziale und physische Kontext, in dem der Künstler wirken will.

Artists Models

Stephen Willats, Artists Models, 1975

Dieses Buch soll als optimales Modell betrachtet werden, da es die drei eben erwähnten Variablen berücksichtigt, das Problem der Relativität ist bei der Konzeption der Methodik nicht ausser Acht gelassen worden. Zu dem Buch gehört eine Übersichtstafel, auf der alle Eintragungen zu sehen sind, die die Besucher in ihre Modell-Bücher gemacht haben. Die Kopien der Eintragungen konnten dadurch gesammelt werden, dass jede Seite eines Buches doppelt ist. Kohlepapier wird mit dem Buch mitgeliefert; um eine Kopie einer Eintragung zu machen, legt man es zwischen die Seiten. Nachdem das Buch vollständig ausgefüllt worden ist, legt man die oberen Kopien in einen Sammelkasten; diese werden dann eingesammelt und auf der Übersichtstafel ausgestellt. Man behält eine vollständige Kopie seines Modell-Buches und kann so die ausgestellten Modelle mit seinen eigenen vergleichen. Beabsichtigt wird, dass die Besucher durch den Vergleich der Modelle aus dem Modell-Buch zu einer Überprüfung angeregt werden und sich über die Relativität in der Kunstpraxis klar werden.

 

 

[1] «Die Gestaltung von Modellen ist von zentraler Bedeutung für die Fähigkeit des Menschen, sich zusammenhängende gedankliche Vorstellungen von seiner Aussenwelt zu machen. Man kann die Gestaltung von Modellen als wesentlich es Merkmal der Fähigkeit jedes komplexeren, sich selbst organisierenden Systems betrachten, seine Umwelt vorauszuplanen; dies bildet einen wichtigen Teil seiner Suche nach Handlungen in der Form entsprechender Verhaltensweisen, die sein Überleben garantieren. Der Gebrauch des Wortes «Modell» betrifft die interne Ordnung einer Organisation kodifizierter Darstellungen eines äusseren Zustandes, die, falls notwendig, für den Urheber, den besten Weg zur Erkenntnis des Originals darstellt.» Zitat aus: «The Externalisation of Models in Art Practice» (Das Aufstellen von Modellen in der Kunstpraxis) von S. Willats, Control Magazine, Nr. 8.

[2] Der Gebrauch der Buchform dazu, wie im Modell-Buch, Probleme unterzubringen, wurde ursprünglich erdacht, um eine Reihe von methodologischen Ergebnissen, einschliesslich das des Relativismus, in einigen von mir eingeleiteten Projekten zu bewältigen. Die Arbeit, die ich für die Ausstellung «Kunstwerke in Buchform» entwickelte, soll diese Probleme anschaulich darstellen. (Man war der Meinung, dies sei sinnvoll er als nur über den Plan der in diesen Projekten angewandten Methoden zu reden, in denen versucht wurde, die Implikation en eines absichtsvoll empfehlenden Modells im geschlossenen Bezugsrahmen von Kunst herauszustellen.) Diese Arbeiten gingen nicht durch die traditionellen Kunst-Institutionen, sondern sie richteten sich an ein Publikum, für das Kunst eine untergeordnete Rolle spielt. Folglich waren die Projekte so angelegt, dass sie sich in die Verhaltensroutinen der Besucher_innen in ihren Nachbarschaften einfügten. Die Arbeiten bestanden aus einem Lernsystem, das als ein empfehlendes Modell für einen Lebenskodex dienen sollte, und dem Publikum mit Hilfe der lnteraktionsmethode einen gemeinsamen Kontext geben sollte. Eine dieser Arbeiten, The West London Social Resource Project (Projekt «Soziale Hilfsquellen», West London) verwendete zwei zusammenhängende Bücher: das West London Manual und das West London Re-Modelling Book . Diese zwei Bücher wurden von den Teilnehmern der Aktionen benutzt, um ihre als selbstverständlich betrachteten Vorstellungen der sozialen Umgebung ihrer Nachbarschaft in Form von Modellen darzustellen. Das West London Manual wurde gebraucht, um beschreibende (deskriptive) Modelle der sozialen Umwelt der Teilnehmer auf zubauen, und das Re-Modelling Book tat das gleiche für empfehlende (preskriptive) Modelle. Übersichtstafeln befanden sich in den Gebieten von West London, wo diese Aktion durchgeführt wurde; auf diesen Tafeln waren Modelle von Teilnehmern ausgestellt, die den Leuten ermöglichten, ihre Modelle mit, denen von anderen zu vergleichen. Bei den Modellen, die aufgrund des Ummodellierbuches zustande kamen, konnten die Teilnehmer über ihre Vorzugsmodelle abstimmen, daraus entstand am Ende eine Serie von Übereinstimmungen, die in einem Buch veröffentlicht wurden. Eine andere Arbeit, die aus dem West London Social Resource Project entstand, das Edinburgh Social Model Construction Project, befasste sich mit den zwischenmenschlichen Verhaltenskonventionen von vier in Edinburgh ansässigen Gemeinschaften. Das Projekt stellt ein empfehlendes Modell für zwischenmenschliche Verhaltenskonventionen vor, dass auf einem «Homeostat» basiert, den die Teilnehmer, indem sie ihn bei der Formulierung von Problemlösungen als Beispiel verwandten, in Kontext setzen konnten. Die Problemstellungen zielten in diesen Arbeiten auf die soziale Umwelt des Teilnehmers. Eine typische Problemstellung im West London Manual betraf die Wahrnehmung einer Fotografie von einem Eingangstor, das sich in der Strasse des Teilnehmers befand und das er daher bereits gut kannte. In dem Edinburgh Projekt handelte es sich bei einem Problem um ein gesellschaftliches Ereignis im lokalen Sportklub, wo die Teilnehmer, obwohl nicht selber Mitglieder des Klubs, doch eine Person kannten, die Mitglied war. Die Methoden der Interaktion, die bei den Aufgaben angewandt wurden, in denen die Konstruktion von Modellen eine zentrale Rolle spielte, machten es möglich, dass ständig sehr viele Personen aus einer Bevölkerungsgruppe teilnahmen, die wenig Vorbildung oder Kunstinteresse besassen. 

Weitere Informationen über diese Projekte findet man in den folgenden Veröffentlichungen: 

«Social Resource Project for Tennis Clubs», Januar 1972. «The Artist as an lnstigator of Changes in Social Cognition and Behaviour» S. Willats. Gallery House Press. 1973.
«The West London Social Resource Project» 1972/73. «The Artist as an lnstigator of Changes in Social Cognition and Behaviour» S. Willats. Gallery House Press. 1973.
«Art and Social Function: Prescriptions» S. Willats. Art and Artists, Juni 1973 .
«The West London Social Resource Project» S. Willats. Studio International, Januar 1973.
«Prescriptions for Task Orientated Methodologies in Constructing Operational Models of Art Practice.» S Willats. Control Magazine No 7.
«The Edinburgh Social Model Construction Project.» Aug 1973. «The Edinburgh Project.» S Willats. January issue of Art and Artists. 1974.
«The Externalisation of Models in Art Practice.» S Willats. Control Magazine No 8.

[3] Die Arbeitsmethodik unterscheidet sich vielfach von traditionellen Zügen der Kunstpraxis. Sie funktioniert etwa folgendermassen: Zur Zeit als man die pluralistische Beschaffenheit der Kunstpraxis erkannte, war ihr wesentlicher Zug die Verkörperung der Intention des Künstlers im Kunstwerk, das als einschüchterndes Moment zwischen seinen Gedanken, irgendeinem Erkenntnisakt und dem darauffolgenden Verständnis des Publikums wirkte. In diesem Prozess drückte der Künstler seine Gedanken in einem chiffrierten Modell aus, in einer Form, die man dann Kunstwerk genannt hat. Beim Dechiffrieren ordnet das Publikum seine eigenen Vorstellungen, um zu einem Gedankenaustausch mit dem Künstler zu kommen. Als Mittel gezielter Kommunikationsmittel - gemeint ist nicht, dass man Daten empfängt, sondern dass man sie als Information versteht - leidet dieses soeben erwähnte Verfahren unter den unvermeidlichen Problemen der Relativität; dadurch sind der Zusammensetzung des Publikums, das sich mit den Problemen des Künstlers auseinandersetzt, Grenzen gesetzt. Man kann zwei grundlegende Beobachtungen machen, von denen andere, sozial- und verhaltensbedingte Probleme abhängen oder gar abgeleitet werden: «1. Erkenntnisse, aus denen Modelle abgeleitet werden, haben mit den bedingten Erfahrungen des Publikums zu tun. Will das Publikum diesen Erfahrungen den gleichen Sinn oder die gleiche Bedeutung beimessen wie der Künstler, muss es Zugang zu seinem Bezugsrahmen haben oder beide müssen zu den gleichen Erkenntnissen kommen. 2. Das Publikum muss die Sprache, die zur Chiffrierung des geplanten Modells verwandt wurde, kennengelernt haben, um zu dechiffrieren.» Zitat aus: «The Externalisation of Models in Art Practice» von S. Willats. Control Magazine, Nr. 8.

[4] «Information, Mechanism and Meaning» (Information, Bedeutungsmechanismus). Donald McKay. The M.I.T. Press. Juni 1972.

[5] «Learning: reinforcement theory» (Intensivierte Lerntheorie). Fred S. Keller. A Random House Study in Psychology, S.13, 1969.