Rasterfahndung nach dem Authentischen

Wir leben in einer Zeit, in der Jede und Jeder mit geringem Aufwand und in kürzester Zeit ein Publikum von mehreren Tausend Personen erreichen kann. Die Verbindung von einzelnen Individuen ist der Grundstein für den seit der Jahrtausendwende unablässig wachsenden Erfolg der sozialen Medien. Keine Interessengruppe ist heute zu klein für einen Gruppenchat, einen Circle oder einen Kanal. Die direkten Kosten, die dabei anfallen, sind vorerst verschwindend gering. Dass dies nicht immer so war, zeigt die nachträglich zur Ausstellung «Unter dem Radar. Underground- und Selbstpublikationen 1965–1975» erschienene Publikation auf eindrückliche Weise. 
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«Unter dem Radar. Underground- und Selbstpublikationen 1965–1975»

Die Aufforderung zur Horizonterweiterung im Beitrag «Marijuana in Bayern» aus dem Magazin päng Nr. 5.

In der Publikation «Unter dem Radar. Underground- und Selbstpublikationen 1965–1975» werden zahlreiche Interessens-Publikationen behandelt, die in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren in der damaligen Bundesrepublik Deutschland erschienen sind, zumeist im Selbstverlag und -vertrieb. Die Herausgeber_innen vergessen nicht, diese Publikationen im internationalen Kontext zu verstehen und aufzuzeigen, welchen Einfluss internationale Magazine der Gegenkultur wie die britische International Times oder der amerikanische Whole Earth Catalog auf die Entwicklung alternativer deutscher Magazine hatten.

Viele dieser Publikationen wurden nicht von institutionellen oder kommerziellen Akteur_innen veröffentlicht. Sie sind darum auch in Bibliotheken und Archiven nur spärlich aufbewahrt und bis heute entweder gar nicht oder nur ungenügend bibliografisch erfasst. Das wird die Recherche nicht vereinfacht haben, wenngleich der für die in der Publikation verfassten Texte verantwortliche Autor und Literaturwissenschaftler Jan-Frederik Bandel auf seine eigene Sammlung zurückgreifen konnte. Es ist darum auch verständlich, wenn er einleitend explizit darauf hinweist, dass die Publikation dieses unübersichtliche Gewirr nicht abschliessend auflösen kann.

Bei der Auseinandersetzung mit dem Katalog wird rasch klar, dass ein «Querlesen» der damaligen Publikationskultur im Vordergrund steht. In 22 Themengebieten werden die wichtigsten Identifikationsmerkmale dieser Publikationen angesprochen: Wer zählte sich zur damaligen Gegenkultur, welche Ziele verfolgten die Magazine, welche Bedeutung hatte die häufig analoge Produktionsweise, und welchen Einfluss hatten die Publikationen auf den gesellschaftlichen Mainstream. Die maximal A4-seitigen inhaltlichen Texte werden in der Publikation jeweils von zahlreichen durchgehend farbigen (jedoch oft verkleinerten) Abbildungen begleitet. Sie machen deutlich, wie stark diese Szene auch vom ihrer eigenen Ästhetik geprägt war. In Abgrenzung zur geordneten Rastertypografie zeichnete sie sich durch eine Schnipselästhetik, Comics, Hand- und Schreibmaschinenschriften, monochrome bis psychedelisch vielfarbige Drucke aus. Aufgrund der übergrossen Bildseiten (24,5×33,5cm) treten die mit den eingeschobenen Kurztexten unterteilten Themengebiete gegenüber einem bunten Bildband in den Hintergrund. Dieser inhaltliche und visuelle Überblick ist darum auch als die grösste Leistung der Publikation anzusehen.

Aus einem Überblick lässt sich kein Manifest schreiben. Zu vielfältig sind die Hintergründe der verschiedenen Magazine. Ihr grösster gemeinsamer Nenner ist der gesellschaftliche Gegenentwurf zu den damaligen autoritären und dogmatischen Normen. Dieser widerständige Geist hat eine grosse Strahlkraft und erklärt zum Teil, wieso jene Zeit bis heute eine so starke Faszination ausübt.

Idealisierung

Der Gedanke an den Ausbruch aus dem gesellschaftlichen Korsett liesse sich auch heute noch weiterspinnen. Wie stark sich jedoch die Gesellschaft seit den 1968er Jahren verändert hat, ist für viele danach (und wohl auch davor) geborene Personen vermutlich nur noch schwer vorstellbar. Zu wissen, dass es ausserhalb des eignen, nicht selbst gewählten Kaffs tatsächlich vereinzelte Gleichgesinnte gab, die sich nicht automatisch für den Turnverein oder den Schützenklub interessierten, war manchmal wohl wie eine letzte Versicherung dafür, dass man selbst noch bei gesundem Verstand ist.

Unter dem Radar. Underground- und Selbstpublikationen 1965–1975

Die Definition des Selbstbildes der Undergroundpresse als wichtiges Mittel zur Einbindung von Gleichgesinnten und Abgrenzung gegenüber dem gesellschaftlichen Mainstream.

Die persönliche Erinnerung daran, wie man sich um Distribution, für einen Versand bemühte, erscheint mir heute darum unglaublich faszinierend. Die Szene wurde von Beziehungen und Freundschaften dominiert. Wer Publikationen bestellen wollte, schrieb einen Brief und erzählte in der Regel, wie und wo er davon erfahren hatte. Als Antwort konnte man oft zusätzlich zur Bestellung einen kurzen persönlichen Brief erwarten. Der grösste Teil der zwischenmenschlichen Unterhaltungen reicht heute von Hashtags über 140 Zeichen bis zu zusammenhängenden Unterhaltungsprotokollen. Statt originalen Artefakten wie Briefen besitzen wir heute Kopien unserer Dateien. Und politisch sind in vielen westlichen Ländern damalige Forderungen wie etwa der Ruf nach gesellschaftlicher Liberalisierung und einem weniger autoritärer Staat inzwischen Wirklichkeit geworden.

So ist es verständlich, dass die Auseinandersetzung mit der alternativen Magazinen leicht zu nostalgischer Verklärung führen kann, die in der Publikation nicht ausreichend ausgeräumt wird. Dabei leben wir in hervorragenden Zeiten, um sich gegen die Abschaffung der Privatsphäre, die Zerstörung unserer Lebensumwelt oder die ungezügelte Wirtschaft zu wehren.

Die aktuellen Probleme sind nicht zwingend komplexer, doch sie lassen sich aufgrund der grösseren Pluralität der Meinungen weniger leicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Dem gegenüber liess sich die Quelle der gesellschaftlichen Unterdrückung und Gleichschaltung vor gut 50 Jahren noch viel einfacher beim Staat festmachen. Dieser eignete sich für Publikationen von links bis rechts für lange Zeit (und bis heute) als gemeinsamer Gegenpol. Diese Vermengung fand gerade auch beim in der vorliegenden Publikation häufig zitierten Whole Earth Catalog statt. Sinnigerweise war das von Steve Jobs als Vorläufer des Internets bezeichnete und für die Umweltbewegung einflussreiche Magazin gleichzeitig an libertären und kommunalen Idealen orientiert. An den Rändern des politischen Spektrums links und rechts waren sich Libertäre und Anarchisten einig, dass es viel weniger Staat braucht.

Die damaligen Utopien von autonomen Kommunen leben darum heute in den Fantasien von unregulierten schwimmenden Arbeitsinseln vor der Küste Kaliforniens und den tropischen Kommunen der neuen digitalen Nomaden weiter. Sie entwickeln die Geschäftsmodelle, mit denen wir unkompliziert unsere Wohnung an «Freunde» zwischenvermieten oder überall auf der Welt unsere Musiksammlung anhören können. Dass diese Geschäftsmodelle zur Verteuerung unserer Städte und den Abbau unserer Besitzrechte beitragen, wird uns erst allmählich bewusst. Mit zunehmender Globalisierung und Liberalisierung fand eine Verschiebung der Verantwortung weg vom Staat, hin zu privaten Akteuren und Individuen statt. Heute können wir nicht mehr einfach den Staat für die Missstände verantwortlich machen, sondern wir müssen oft Einzelfälle abwägen und einfache Erklärungen relativieren.

Immer wieder stösst man bei den in «Unter dem Radar» behandelten Themenfelder auf Stellen, die in Bezug auf die heutige Zeit aufhorchen lassen. Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan wird im Kapitel «Theorie» mit der Aussage zitiert, dass die damalige Zeit eine Zeit gewesen sei, «in der es gilt, Schranken niederzureissen, mit alten Kategorien aufzuräumen – nach allen Seiten zu sondieren». Nun mag das auf die 1960er und 1970er Jahre weitgehend zutreffend gewesen sein. Heute in der Zeit maximaler individueller Authentizität und pseudojournalistischer Pluralität muss man sich mindestens fragen, ob es nicht theoretische, gesellschaftliche und politische Fragen gibt, in denen sich das Arbeiten auf einen Konsens hin lohnt.

Vergleicht man das Ausmass der Empörung über die staatliche Überwachung in den 1950er bis 1970er Jahren mit der Nonchalance, mit der wir heute die Nutzungsbedingungen von zahlreichen Gratis-Apps akzeptieren, dann sollte man mindestens in Besorgnis geraten. Wir gehen davon aus, dass wir schlimmstenfalls eine passende Jeanswerbung vorgesetzt bekommen, nicht aber, dass unsere politische Meinungsbildung davon beeinflusst werden könnte. Vielleicht ist es diese Unverbindlichkeit und Unfassbarkeit der heutigen Probleme, die einen Rückblick auf die damaligen alternativen Publikationsformen und -strategien so attraktiv macht. Sie bieten einen formalen Ausweg aus einer inhaltlichen Krise. Das Zusammentreffen von revolutionären politischen Forderungen mit ästhetisch-visuellem Ungehorsam war ein historischer Glücksfall der seine Ausstrahlung bis heute nicht verloren hat.

Reaktivierung

Nahezu zeitgleich mit der Aufarbeitung der Magazine der Gegenkultur durch die Herausgeber_innen fand in den letzten zehn Jahren international ein Wiederaufleben der im Selbstverlag veröffentlichten Publikationen statt. Die im Zusammenhang damit entstandenen Buchmessen («NY Art Book Fair», «Offprint», «I Never Read» etc.) sind sichtbare Zeugen dieser neuen Popularität. Doch kann dieses Wiederaufleben tatsächlich als zeitgemässe Weiterführung der unabhängigen Verlage der 1960er und 1970er Jahre gesehen werden?

Die Popularität von zahlreichen subkulturellen Veröffentlichungen hing oft stark mit den technischen Produktionsbedingungen zusammen. Mit der Verfügbarkeit von Umdruckern und der Verbreitung von Fotokopierern in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren waren die technischen Voraussetzungen für die kostengünstige Produktion im Selbstverlag gegeben. Die Einführung des Netscape Navigators 1994 war schliesslich der Auftakt für die Nutzung des Internets durch die breite Masse. Nachdem in den frühen Jahren für den «Selbstverlag» im Internet noch Programmierkenntnisse notwendig waren, begann mit dem Beverly Hills Internet, einem Vorläufer der um die Jahrtausendwende äusserst populären Website Geocities, auch das Zeitalter der sozialen Medien. Programmierkenntnisse wurden für Individuen zunehmend unwichtig, wenn es lediglich darum ging, seine Ansichten verbreiten zu können.

Um was also geht es bei dem in der Vorbemerkung von «Unter dem Radar» erwähnten neuen Boom? Geht es um den gestalterischen, freiheitlichen Aspekt des Selfpublishings, wie er gerade an Kunsthochschulen so beliebt ist? Geht es in Zeiten der flüchtigen, digitalen Produktion um ein elitäres, bürgerliches Ideal des physischen «Publizierens»? Oder geht es darum, mit einem Thema Menschen zu erreichen?

Ein grosser Anteil der heutigen Faszination für die Untergrundpublikationen rührt daher, dass sich in ihnen eine politische und eine gestalterische Haltung treffen und gegenseitig ergänzen. Dass dies auch bei historischen Untergrundpublikationen nicht immer der Fall sein muss, zeigt die im Raum der ehemaligen Sowjetunion entstandene Untergrundpresse «Samisdat». Samisdat, wörtlich aus dem Russischen mit «Eigenauflage» oder «Selbstverlag» übersetzt, lehnt sich ironisch an den in der Sowjetunion allmächtigen «Gossidat» (Staatsverlag) an. Samisdat war in Russland und in einer Vielzahl sozialistischer Staaten die unzensierte Produktion, die Verbreitung und der Konsum von nicht-systemkonformer Literatur und Musik über inoffizielle Kanäle. Die Bewegung war so verbreitet, dass verbotene Publikationen damals höchstens von sehr trägen oder vorsichtigen Menschen nicht gelesen wurden. Interessanterweise wurden sehr viele im Samisdat erschienene Publikationen in andere Sprachen übersetzt..

Die heutige Opposition findet sich dagegen eher im Internet, in losen Gruppen wie Anonymous oder bei unabhängigen Aktivisten, die auf ihren Blogs die Korruption in ihren jeweiligen Staaten anprangern. Der Moment, an dem das Publizieren auf einem gedruckten Medium nicht mehr zwingend notwendig war, kann darum als eigentlicher Wendepunkt angesehen werden. Mit ihm veränderte sich auch die Beziehung von Inhalt und Gestaltung in grundlegender Weise. Für die digitalen Publikationen führten vor allem die technischen Aspekte, wenn man die experimentelle Phase der späten 90er Jahre ausschliesst, weitgehend zu einer Vereinheitlichung der Darstellungsformen. Die Befreiung von der baren Notwendigkeit einer physischen Publikation ermöglichte demgegenüber der Gestaltung ein neues Selbstverständnis ohne den Zwang zu textlichem Inhalt. Insofern ist es wenig erstaunlich, dass es vor allem Kunstbücher und -publikationen sind, die heute vom erneuten Boom profitieren.

Die Publikation «Unter dem Radar» setzt sich mit diesem Aspekt insofern auseinander, als dass sie versucht, diesen neu entstandenen inhaltlichen Graben zu überbrücken und die neue gestalterische Freiheit mit inhaltlicher Auseinandersetzung zu verbinden. Deutlich zeigt sich dies in der Publikation in den jeweils den Abbildungen beigestellten Quellenangaben. Während sich diese sich in 90% der Fälle auf die bibliographischen Angaben beschränken werden in wenigen Fällen zusätzliche Informationen geboten. Leider gehen diese in der gestalterischen Spielerei etwas häufig unter. Als Leser_in gerät man darum etwas zwischen Tür und Angel: Für die inhaltliche Vertiefung sind die Texte, zugunsten der  Themenvielfalt, zu stark verkürzt. Oft sind die von zahlreichen Literaturangaben gespickten Texte so stark verdichtet, dass vor lauter Zitaten die Erklärung auf der Strecke bleibt. Und für die gestalterische Auseinandersetzung machen viele der vorgestellten Publikationen zwar Lust auf eine eingehendere Betrachtung, die im Katalog jedoch aus sehr nachvollziehbaren Gründen nicht eingelöst werden kann. Die Herausgeber_innen scheinen sich jedoch bewusst auf diese Gratwanderung zwischen Überblick und Vertiefung begeben zu haben und verstehen die Publikation als Bindeglied zwischen der ausreichend erforschten historischen Bedeutung der Alternativmedien und dem vor allem bei jüngerem Publikum grossem Interesse für die damaligen «Meta-Publikationen». Insofern bietet die Publikation «Unter dem Radar» mit einer umfassenden Literaturliste auch genügend Anknüpfungsmöglichkeiten für eine weitere inhaltliche Vertiefung und Recherche.

Unter dem Radar. Underground- und Selbstpublikationen 1965–1975

Teilhabe ohne gestalterische und inhaltliche Scheuklappen: «was wir sagen u. tun ist immer richtig, weil es aus der geistigen freiheit entspringt!»

«Unter dem Radar» stellt dazu eine gute Grundlage dar, die hoffentlich auch dazu beitragen kann, den von Bandel zusammengetragenen Bestand längerfristig zu sicher und zugänglich zu machen. Denn aktuell ist eine Vertiefung «am Objekt» für die behandelten Magazine in vielen Fällen leider nicht möglich. Denn trotz des grossen internationalen Interesses für experimentelle und alternative Publikationen existieren erstaunlicherweise so gut wie keine Nachdrucke. Während es in der Musik zahlreiche Labels gibt, die sich auf die Nachpressung von vergriffenen und seltenen Schallplatten spezialisiert haben, ist es nur schwer möglich, vergriffene, alternative Publikationen in die Hände zu kriegen. Dabei hätten viele davon wohl wenig gegen ein solches Vorhaben einzuwenden. Das deutsche Untergrundmagazin Päng vermerkt auf dem Titelblatt seiner ersten Ausgabe von 1970 ausdrücklich, dass Nachdrucke mit Quellenangabe erlaubt sind. Sucht man heute jedoch nach einem solchen Original oder Nachdruck, so wird man schneller bei einem Stuttgarter Lifestylemagazin gleichen Namens fündig als bei einem Exemplar der damaligen deutschen Alternativzeitung.

Das Buch «Unter dem Radar. Underground- und Selbstpublikationen 1965–1975» wurde 2017 von Jan-Frederik Bandel, Annette Gilbert und Tanja Prill beim deutschen Verlag Spector Books als Publikation zu der zwischen Oktober 2015 und Februar 2016 durchgeführten gleichnamigen Ausstellung im Zentrum für Künstlerpublikationen an der Weserburg in Bremen veröffentlicht. Die Recherche wurde durch Mitarbeitende und Studierende der Freien Universität Berlin und der Hochschule für Kunst Bremen unterstützt.